Album der Woche #24-2019 – „Polar Vortex“ by Mathias Grassow & Michael Brückner

„Polar Vortex“ ist der erste gemeinsame Longplayer der musikalischen und geographischen Nachbarn Mathias Grassow und Michael Brückner. Ein fünfundsiebzigminütiger Trip in Slow Motion, zwischen dunklem Ambient, rhythmischen Exkursionen zu flächigen Klängen, Drones, die aufgebrochen werden von Percussion, Klavier, Cello und der betörenden vokalen Begleitung durch Cilia Di Ponte („Shanti“).

Die Stilmittel erinnern an die Arbeiten Klaus Schulzes, doch die Musik Grassows und Brückners findet nicht in der Berliner Schule statt, sondern eher auf den weiten Feldern nebenan, oder in maroden Fabrikanlagen im Licht der untergehenden Sonne. Das ist Musik, die sacht gleitend voranschreitet und immer Zeit hat für fein ausgearbeitete Zerstreuungen, grazile Störfaktoren und Abenteuer am Wegesrand. Verweist eher auf die experimentelleren Momente in Vangelis‘ Schaffen (ohne dessen Lust an Kakophonie und Abstraktion zu frönen) oder in der Einbeziehung weltmusikalischer Elemente auf Steve Roach, bei Verzicht aufs Didgeridoo und Ausflüge ins Outback. Dafür spielt Doris Hach gelegentlich Monochord.

„Polar Vortex“ ist eine kontemplative Klangreise, während der Ruhe nicht Stillstand bedeutet und einlullende Klangschalenästhetik außen vor bleibt. Ein Mikrokosmos, in dem unglaublich viel passiert, in dem Zeit und Raum genutzt werden für minuziöse Verschiebungen und Innehalten, bevor wieder etwas Neues entsteht. Oder dem Nachhall der erzeugten Töne gelauscht wird. Grassow und Brückner spielen mit Stimmungen, ihrem musikalischen Wissen und ihren Erfahrungen. Dabei springt für den Zuhörer eine zauberhafte Momentaufnahme heraus. Eine kleine Lehrstunde in elektronischer Musik, die ohne erhobenen pädagogischen Zeigefinger daherkommt. Darüber Nachdenken oder einfach entschweben – Your Choice.

FAZIT: „Polar Vortex“ ist die überzeugende Kollaboration der beiden Klangtüftler Michael Brückner und Mathias Grassow. Ein stilles Werk, in dem unheimlich viel passiert. Elektronische Musik, die sich in der Berliner Schule auskennt („The Falling Of Leaves“, die „melodische“ Version!), Dark Ambient schätzt, World Music einbaut und schwelgerisch ein atmosphärisches Abtauchen in traumverhangene Zwischenwelten abfeiert. State of the Electronic Art.
Jochen König (Hier ist das Original)